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Wer braucht Gründe, wenn man Heroin hat?

Review: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (Miniserie)

Mini-Spoiler
23. Februar 2021, 18:59 Uhr
Mini-Spoiler
Chris
23.02.21

Wir Kinder vom Bahnhof Zoo

„H? Es ist, als ob du mitten im Winter draußen in der Kälte stehst und plötzlich kommt jemand mit ner warmen Decke und hüllt dich ein. Und dann merkst du einfach, alles wird gut und sicher.“ (Axel)

Das klingt ein wenig nach „Trainspotting“, dem Drogen-Kultfilm der 1990er! Es gibt nur wenige Filme, die gleichzeitig die Faszination von und die Abscheu vor Heroin so glaubhaft transportieren. Habe ich da tatsächlich eine Parallele zu Renton und seiner Clique gefunden? (Renton sagt: „Nimm den besten Orgasmus, den du je hattest. Multiplizier ihn mal tausend und du bist noch nicht mal nah dran.“) Vielleicht will die Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ja ein bisschen mehr wie Trainspotting und weniger wie der Film aus 1981 sein. Seit dem 18. Februar bei Amazon Prime Video verfügbar, erzählt sie in acht Teilen das Schicksal der titelgebenden und längst dadurch berühmten Christiane F. und ihren Freunden. Blöderweise hatte ich aber doch noch sehr die Verfilmung von Uli Edel aus dem Jahr 1981 im Kopf. Und die sollte man wirklich streichen, wenn man der Neuauflage eine Chance geben will. Ebenso von der Vorstellung, dass das Buch werkgetreu umgesetzt wurde. Es heißt nicht umsonst: diese Serie beruht auf den Erlebnissen von Christiane F. Einzelne Personen sowie Ereignisse in ihrem Freundeskreis und familiären Umfeld sind fiktionalisiert oder frei erfunden.

„Ich fass das Zeug nicht an.“ (Benno)

Kennen dürfte die Geschichte um Christiane F.(elscherinow) wohl jede*r, der/ die irgendwann zwischen 1980 und 2021 in die Schule gegangen ist. Zählt sie doch zum klassischen Literaturkanon der Schullektüren, die die Gefahr von Drogen aufzeigen sollen. Nachdem seit der Verfilmung mit der damals 13-jährigen Natja Brunckhorst in der Hauptrolle schon 40 Jahre ins Land gezogen und Neuauflagen ja momentan mal wieder sehr in Mode sind, bot es sich wohl an, den Stoff wieder neu aufzulegen. Herausgekommen ist eine 8-teilige Serie, die tatsächlich gar nicht mal so schlecht geworden ist. Aber der Reihe nach.

Christiane (Jana McKinnon), ein unscheinbares, zierliches Mädchen mit einer ziemlich lebhaften Fantasie, hat es in ihrer Klasse nicht wirklich leicht. Ihre geistigen Ergüsse sorgen im Unterricht eher für Lacher als für bewundernde Blicke. Als sich die coole Stella (Lena Urzendowsky) für sie einsetzt, schafft es Christiane irgendwie in ihren Dunstkreis zu kommen. Man trifft sich jeden Samstag im Sound, der angesagtesten Disco Berlins, wo Christiane auch Bekanntschaft mit Drogen in Form von Pillen, LSD und Haschisch macht.

Stella ihrerseits ist die Tochter einer alkoholkranken Kneipenwirtin, die sich aufopfernd um ihre kleinen Geschwister kümmert, wenn Mama mal wieder nicht in der Lage dazu ist – gefühlt 6,9 Tage pro Woche. Dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund und versucht auch, ihrer Mutter die nötigen Tritte in den Hintern zu geben, was Erziehung und Verantwortung angeht:

„Mein Sohn kriegt ’ne Kugel Vanilleeis und dann wir gern zwei Mal Pfirsich-Melba für die jungen Damen hier und ein Glas Sekt, bitte.“ (Nati)
„Meine Mutter trinkt nen O-Saft!“ (Stella)

Der heilige Abend soll die Kehrtwende für alle Beteiligten darstellen: nachdem Stella von einem Kneipengast vergewaltigt wird und Christianes Eltern erbittert streiten, treffen sie auf die junge Babsi, die auf der Weihnachtsgala im lieblosen Haus ihrer Großmutter mal wieder bloßgestellt wurde und sich von der Brücke stürzen will. Stella kann sie davon abhalten und nimmt sie mit ins ‚Sound‘. In der U-Bahn treffen die Mädchen auf Axel, eine Zufallsbekanntschaft Christianes, und seine Kumpels Michi und Benno. Durch die Jungs kommen im Laufe der Serie schließlich in Berührung mit Heroin und die Spirale nach unten aus Party, Drogen, Sucht, Entzügen, Prostitution, Selbsterniedrigung und Kriminalität beginnt. Dass dies nicht für alle glimpflich ausgeht, sollte klar sein.

„Sie war erst 14!“ (Überschrift der Zeitung)

So viel zum Inhalt der ja schon im Vorfeld sehr kontrovers diskutierten Serie. Größtes Manko für viele: Optik und fehlende historische Genauigkeit. Das war auch das, was auch mir als erstes aufgefallen ist. Wer Film und Buch kennt, weiß, dass Christiane F. mit 13 zu den Drogen kam und mit 14 Jahren anfing, Heroin zu spritzen. Leider ist Jana McKinnon schon 21. Auch wenn sie durch ihre zierliche Figur und die großen Augen jünger wirkt als sie ist, kann man ihr den unschuldigen Teenager nicht abnehmen – ein Problem, das übrigens den kompletten Cast durchzieht. Die Teenies zu alt, die Eltern von Christiane, allen voran der Vater, viel zu jung. Das macht es natürlich schwer, die Tragik der Geschichte zu fassen, weil man viel zu sehr damit beschäftigt ist, das Alter der einzelnen Darsteller zu schätzen. Natürlich ist es auch schrecklich, wenn junge Erwachsene sich prostituieren und schwerst drogenabhängig sind, dennoch erreicht dies bei 13- oder 14-jährigen doch eine andere Dimension. Erschwerend kommt hinzu, dass man eigentlich bloß bei Stella irgendwie verstehen kann, warum sie Halt in der Droge sucht. Beim Rest kommt irgendwie ein „Ach, dann nehmen wir es mal, weil das Drehbuch es so will“- Gefühl rüber.

Dementsprechend unglaubwürdig sind aus diesem Grund auch die ersten vier Folgen der Serie. Der Alltag der Teenies erscheint nicht trist genug, man versteht ihre Beweggründe nicht. Ja, nicht einmal die angeblich versiffte Gropiusstadt oder der abgewrackte Bahnhof Zoo wirken authentisch – alles ist zu sauber, zu glatt, zu modern. Selbst das Anschaffen scheint den Mädchen allen Ernstes Spaß zu machen. Randnotiz: auch sehr eigenartig, dass es keinerlei Rivalitäten auf dem Strich gibt, keine Streitereien zwischen „alten Hasen“ und „jungem Gemüse“ um die besten Plätze oder solvente Freier. Dass Christiane sich nach ihrem ersten Handjob stundenlang die Hände wäscht, ist nachvollziehbar – der Ekel über sich selbst wird in der Szene allerdings nicht transportiert. Mein erster Gedanke hier war, dass es jetzt wirklich reicht mit der Verharmlosung und Romantisierung des Drogenkonsums und ich mir die restlichen Folgen nicht mehr antun will.

Wie schon oft bemängelt, sehen die sechs Hauptdarsteller wie auf Heroin-Chic gestylte bzw. kostümierte, inzwischen erwachsene Kinderschauspieler aus, die auch mal ’ne „dreckige Rolle“ spielen wollen, um ihrem Image zu entfliehen – aber dabei natürlich mit glamourösem Make-Up und Fön-Frisur. Da sitzt alles perfekt, passt super zusammen und hat mit den zweifelhaften Schmink- und Stylingversuchen junger Mädels und den modischen Irrungen der frühen 80er nichts gemeinsam (Man denke an die rot gefärbten Haare oder die Ringelsöckchen in den Pumps im Film). Selbstredend ist die Sechserclique auch ziemlich cool und wirkt kein bisschen verloren – und das als stark Süchtige? Dass Heroin inzwischen aus dem öffentlichen Bewusstsein durch Chrystal Meth verdrängt wurde, spielt da eher die kleinere Rolle. Auch die zeitliche Einordnung fällt schwer: Kleidung der frühen 80er trifft auf Musik der 90er in einem Berlin des 21.Jahrhunderts – das ist nämlich inzwischen wirklich sauberer als vor Jahren (zumindest kommt es mir als Tourist so vor).

Dennoch vergebe ich

Warum das jetzt, wo ich doch eigentlich bloß geschimpft habe? Naja, Optik ist viel, der Film ein Meisterwerk, das Buch ein Klassiker schlechthin und die Story bzw. das Elend dahinter (Schließlich war Christiane F. nur eine von vielen Unbekannten, hat der Drogenszene und der Kinderprostitution jedoch ein Gesicht gegeben) erschütternd und bewegend. Doch man muss auch ganz ehrlich sagen: gerade Teenager lassen sich von alten Filmen selten beeindrucken und lesen immer weniger. Und: gerade dieser Zeitenmix, diese nicht mögliche Einordnung, wann das Ganze spielen soll, macht die Thematik zeitlos. Die Klamotten sagen: „ja, so war es in den 80ern“, die Musik sagt: „in den 90ern übrigens auch noch“, und die Durchgestylheit sagt: „Auch heute, in jeder Bevölkerungsschicht, und auch in Zukunft wird es dieses Problem geben“. Ich muss auch zugeben, dass es mich zu Beginn wahnsinnig gestört hat, dass aus „Kessi“ eine „Stella“ (deren Darstellung dafür mein persönliches Highlight in der Serie war) und aus „Detlev“ ein „Benno“ wurde, dass die Randfigur „Babsi“ auf einmal aus gutem Hause stammt und Axel trotz Heroinsucht einen super Berufsabschluss hinlegt. Allerdings ist es gerade diese Fiktionalität, die wichtig ist: letzten Endes ist es doch völlig egal, wie die Leute heißen oder ob ihre Vita akkurat der Vorlage entspricht. Durch die nähere Beleuchtung der Charaktere kann man sich besser mit ihnen identifizieren und nimmt noch mehr Anteil an ihrem Schicksal. Den Toden wird Raum gegeben, sie dürfen betrauert werden, reißen noch tiefere Wunden in die ohnehin schon kaputten Seelen und sorgen dafür, dass die Einheit sich entfremdet.

„Ey, das war voll easy. Klar, urige Schmerzen, aber die sind irgendwann vorbei. (…) Aber ich bin clean, das kannste glauben.“ (Benno)

Richtig Fahrt nimmt das Ganze dann ab Folge 6 auf: Benno und Christiane machen bei Christianes Eltern Entzug, der zwar nicht so eindringlich und heftig dargestellt wird wie im Film, aber doch zeigt, dass es beiden dabei nicht gut geht. Stolz wollen sie den anderen davon erzählen, werden natürlich rückfällig, gehen wieder anschaffen, versuchen wieder weg zu kommen… Doch nicht nur Benno und Christiane stürzen komplett ab, auch die anderen geraten in ihren persönlichen Abgrund. Genau hier hat mich die Serie dann wirklich gepackt. Auf einmal ist das saubere, unauthentisch Wirkende weg, das Zusammenbrechen, die Hilflosigkeit, das innere Kapitulieren, der ständige Suchtdruck werden von allen Darstellern glaubhaft rübergebracht, der fast sexy wirkende Heroin-Chic weicht kalkweißer, mit Ekzemen übersäter Haut, tiefliegenden trüben Augen, einem trotz Make-Up kaputtem Äußeren. Und vielleicht ist genau die vorher angesprochene Schwäche auf einmal die Stärke und auch irgendwie das Realistische: nicht jeder Junkie sieht auch nach einem aus, genügend funktionieren im Alltag erstaunlich gut und haben ihren Konsum so weit im Griff, dass das Alltagsgeschäft irgendwie mehr oder weniger nicht komplett aus dem Ruder läuft. Bis zum kompletten Absturz vergeht einige Zeit.

„Gut, dann hören wir jetzt alle auf. So wie Christiane und Benno. Wir schließen jetzt nen Voll-Clean-Pakt. Noch einen letzten Druck und dann hören wir auf.“ (Axel)

Der Selbstbetrug und der sich wandelnde Charakter kommen langsam, schleichend, aber dafür umso heftiger. Besonders eindrucksvoll finde ich die Szene, in der Christiane der inzwischen cleanen Babsi über den Weg läuft und sie unbedingt mit ins ‚Sound‘ schleppen will, ihre anfängliche Standhaftigkeit mit einer dreisten Lüge ins Wanken geraten lässt. Besser hätte man den Unterschied zwischen der durch die Drogen evoziert auf ihren eigenen Vorteil bedachten und manipulativen Göre und der eigentlich doch irgendwie unschuldigen, doch viel zu leichtgläubigen Babsi kaum darstellen können.

Nicht zuletzt gefällt mir auch die Darstellung der Trips, klar es ist technisch inzwischen so einiges möglich, und der eingängige Soundtrack. Ich hätte es nach den ersten paar Folgen nicht für möglich gehalten, doch die Serie hat mich sehr nachdenklich zurückgelassen. Nicht unbedingt die Geschichte der Christiane, sondern vor allem die der anderen fünf – allen voran Babsi und Stella. Auch, dass das Ende offen gehalten wurde, fand ich sehr realistisch und gut – tatsächlich besser als das Happy End im Film. Abschließen möchte ich mit den Worten von Walter Fürst:

„Droge und Dreck – das sind die zwei Generäle des Elends.“

Bilder: Amazon Prime Video

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