Wer wissen will, wie sich der alltägliche ICE-Kosmos anfühlt, muss nicht länger auf die nächste Verspätungsdurchsage warten – einfach Anke Engelke einschalten und loslachen! Die Deutsche Bahn schickt mit ihrer neuen Webserie „Boah, Bahn!“ eine gutgelaunte Zugchefin ins Rennen und alle Welt fragt sich: Ist das jetzt Satire, Serviceoffensive oder heimliche Bahnbewältigungstherapie?
Der unerwartete Vorstoß der Deutschen Bahn ins fiktionale Terrain
Die Deutsche Bahn macht Comedy: Nicht auf den Fahrplänen, sondern bewusst, in eigenen Webvideos. „Boah, Bahn! Wir sitzen alle im selben Zug“ – schon der Titel klingt nach resignierter Mitfahrgelegenheit mit gewohnt wackeligem (Ironie-)Stecker. In knackigen Episoden auf YouTube, Instagram und TikTok führt Anke Engelke als ICE-Zugchefin Tina durch den deutschen Nah- und Fernverkehr, als gäbe es keine maroden Stellwerke und verspätet bereitgestellte Züge. Damit betritt die Deutsche Bahn ungewohntes Terrain: Erstmals produziert sie eine fiktionale Webserie – über sich selbst. Comedy also nicht konsumiert im ICE Portal an Bord oder selbsterlebt als Passagier im Zug, sondern im Stream am Rechner oder auf Tablet und Smartphone – wenn denn der Empfang es zulässt.
Das Ziel ist klar – und wird auch ausnahmsweise ohne Verspätung erreicht: den Alltag des Zugpersonals mit Humor erzählen, Nähe schaffen, Sympathie gewinnen. Die Bahn selbst spricht vom Format als „humorvolle Liebeserklärung an die Mitarbeitenden“. Der Vorstandsvorstand für Personenfernverkehr, Dr. Michael Peterson, formulierte es so: „Wir freuen uns sehr über diese Webserie mit Anke Engelke in der Hauptrolle. ‚Boah, Bahn!‘ ist eine humorvolle Liebeserklärung an die Mitarbeitenden der DB. Die Serie drückt unser aller Wertschätzung für sie aus.“ Doch natürlich ist eine solche Serie in einem staatsnahen Verkehrsunternehmen vor allem auch Marketingstrategie: Die Bahn reagiert damit auf ihr angestaubtes Image, die oft berechtigte Verärgerung von Reisenden und die Herausforderung, in sozialen Medien sichtbar und menschlich zu bleiben.
Rückblick: Aus dem Bahn-Praktikum zur Comedy-Schiene
Was als neugieriges Bahn-Praktikum begann, wurde zum aufwändigen Rollenspiel: Anke Engelke, erklärter DB-Fan und Berufspendlerin, hat sich von der Deutschen Bahn nicht einfach als Werbegesicht einkaufen lassen – sie wollte wirklich wissen, was auf deutschen Schienen abgeht: „Ich habe gelernt, mit wie viel Empathie und Liebe die Leute da arbeiten. Die kommen morgens wieder zur Arbeit, obwohl die beschimpft werden, bespuckt werden, angepackt werden“, wird sie von TV Spielfilm zitiert. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass nicht die Bahn selbst die Idee zu dem Format hatte, sondern Anke Engelke, so nach dem Motto: „Ihr habt Probleme – kann ich helfen?“
Immerhin: Diese Recherchephase fügt Glaubwürdigkeit hinzu; es geht nicht nur um Klischees, sondern um reale Einblicke – auch wenn der fertige Stoff fiktional bleibt. Nach Monaten an Bord, Fahrkartenkontrollen und Dienst am Bistrowagen (dass das gar nicht aufgefallen ist…) entstand daraus die Grundidee für „Boah, Bahn!“ – natürlich nach dem writers‘ room-Prinzip und mit Unterstützung des preisgekrönten Regisseurs Arne Feldhusen („Stromberg“, „Der Tatortreiniger“) und der Produktionsfirma wtf GmbH, einem Joint Venture von btf und Elastique. Das klingt schon danach, dass es „Boah, Bahn!“ nicht zum Supersparpreis gegeben hat: Tatsächlich schweigt die Bahn bislang zu Kosten und Budgets – auf entsprechende Nachfragen heißt es, man äußere sich nicht zu „internen Vertragsangelegenheiten“. Ein Bahnsprecher erklärte lediglich: „Sobald die Ergebnisse vorliegen, entscheiden wir über die Fortsetzung der Produktion.“ Das meint natürlich die Abrufzahlen, und zurzeit kursieren Zahlen, die die Bahn selbst nennt: Man habe „rund 50 Mio Menschen erreicht, 20 Mio Videoaufrufe, rund 650.000 Likes … 99 % positive Kommentare in den ersten 4 Tagen“ – allerdings ohne exakte Nachweise oder Belege.
Darum geht’s bei der Deutsche Bahn-Serie „Boah, Bahn!“?
Im Zentrum steht Zugchefin Tina (Anke Engelke): Freundin der Kundenbetreuung, Chaos-Löserin wider Willen, Team-Motivatorin und offensichtlich Weltmeisterin im Verschütten von Kaffee. Mit dabei sind Zugbegleiterin Katy (Chenoa North-Harder), der schüchterne Lukas (Yannik Heckmann) und Bordbistro-Stewart Serdar (Mücahit Altun) – sie alle navigieren quer durch den ICE-Alltag und stellen sich – manchmal gezwungenermaßen – humorvoll jenen Katastrophen, die jeder Bahnfahrende kennt: von defekten Türen über klimatische Grenzerfahrungen bis zum Fahrgast auf dem falschen Sitzplatz.
Die Serie läuft als kurzweiliges YouTube- und Social-Media-Format mit Episoden von rund drei Minuten und setzt klar auf Sketch-Komik, liebenswerte Figuren und den satirischen Blick auf die Klischees der Schiene. Die Episoden sind kurz, pointiert, gelegentlich geflüstert, häufig mit Sprechdurchsagen im Zug, eben mit kleinen Gags über Verspätungen, defekte Türen, Toilettenprobleme, unzufriedene Fahrgäste – was man aus dem eigenen Bahn-Alltag eben leider auch nur zu gut kennt. Der Ton: selbstironisch, satirisch, manchmal fast mockumentaryhaft, stets bemüht um „Augenzwinkern“ statt offene Spottsucht.
Wie ist das Ganze dramaturgisch und stilistisch aufgebaut? Dem Format der Webserie entsprechend geht’s um eine kurze Aufmerksamkeitsspanne: Die drei bis vier Minuten Länge zwingt zu pointierten Szenen, kompaktem Setup und schneller Punchline. Es geht um eine Perspektive „von innen“ vs. Publikumsperspektive: Weil Anke Engelke durch ihr Praktikum real hinter die Kulissen schauen durfte, spricht die Serie gelegentlich von Vorgängen, die Kund:innen so selten sehen. Die Produktion setzt dabei auf eine Balance zwischen Bild und Text: Viele Szenen inszenieren visuelle Gags (die schon erwähnten Klassiker defekte Türen und exzentrische Fahrgäste), kombiniert mit Off-Kommentaren und Durchsagen. Und um dem Ganzen eines draufzusetzen, versucht man’s auch mit einem Ohrwurm: Neben den Episoden wird die Webserie durch ein Musikvideo mit dem Titel “Thank you for traveling with Deutsche Bahn” begleitet.
Zwischenhalt in den Medien – so kommt die Bahn in den Redaktionen an
Die Medienwelt… ist – Überraschung! – gespalten. Während die Süddeutsche Zeitung den Selbstironie-Modus der Bahn ins Jahr 2010 zurückwünscht, weil die Missstände zu groß seien, loben andere wie t-online den Mut, sich öffentlich selbst auf die Schippe zu nehmen. „Seit Anke Engelke in den sozialen Medien als Zugchefin Tina zu sehen ist, ist der Humor der Deutschen Bahn Gesprächsstoff, denn derzeit wird über die Deutsche Bahn nicht nur geschimpft – es wird auch über sie gelacht.“, so Steven Sowa in t-online. Und natürlich bleibt Kritik aus der Werbebranche nicht aus: Die Serie sei ein gelungener „Ritterschlag“ für die Bahn – aber vielleicht solle man sich lieber um Infrastruktur als um Image kümmern, fasst Campaign Reaktionen zusammen. Andere Medien wie das Eisenbahn-Magazin und Spiegel online verweisen auf die Selbstironie, die vielleicht ein wenig spät kommt, aber immerhin authentisch und liebevoll pointiert wirkt. Thomas Schultze schreibt für The Spot: „Launige YouTube-Serie mit dreiminütigen Folgen, in der die großartige Anke Engelke sich von keiner noch so großen Widrigkeit an Bord ihres ICE aus der Bahn werfen lässt.“ Er sieht das Format als charmanten, unterhaltsamen Versuch, der trotz Kürze Figuren ins Herz setzt.
Sixt ist auch am Start – und kontert auf der Überholspur
Keine neue Bahn-Kampagne ohne Sixt: Der Autovermieter schwimmt auf der Promo-Welle mit und nimmt die Engelke-Serie in Social Media mit gewohnt garstigem Humor aufs Korn. Im neuesten Clip schickt Sixt prompt eine flotte „Zugchefin“ mit Rollkoffer und Bahnuniform auf direktem Weg zum Mietwagenschalter – Motto: „Bloß schnell weg hier!“, inklusive Off-Kommentar, warum ausgerechnet Bahnpersonal jetzt bei Sixt landet. Für Bahn-Marketingchef Beck allerdings „ein echter Ritterschlag“ – schließlich profitiere man gleich doppelt, wenn sogar die Konkurrenz auf den Zug aufspringt und am Ende auch noch fürs Original wirbt.
Neuer Fahrplan für den Imagewandel?
„Boah, Bahn!“ ist keine klassische Produktplatzierung, sondern ein durchaus mutiges Experiment mit Entertainment-Anspruch und Image-Schadenbegrenzungspotenzial. Die Serie will nicht nur unterhalten, sondern auch zeigen, dass hinter jedem schlechten Kaffee und jeder Durchsage mit Dialekt Menschen stehen, die ihren Job lieben – oder zumindest nicht kündigen. Engelke spielt nicht die große Komödiantin, sondern die „Zugchefin von nebenan“, die das Drama am Bahnsteig zur Bühnenvorlage macht, Komik zulässt, wo sonst nur noch das WLAN ausfällt. Mal sind die Pointen holprig wie in die Jahre gekommenes Bahngleis, mal zünden sie überraschend präzise – wie etwa, wenn Tina erotische Zugansagen durch den ICE flötet oder einen Kaffee quer durch einen Waggon balanciert, als wäre sie im Kölner Varieté.
„Boah, Bahn!“ ist damit kein abgehobenes Hochglanz-Werbeformat, sondern eine selbstironische Miniserie, die mit Charme, Spitzen und allem, was zum Bahnfahren dazugehört, überzeugt. Ob die Pannen der Bahn und die Running Gags rund ums Schienennetz in der Realität einfacher zu ertragen sein werden, darf bezweifelt werden – für den ganz normalen ICE-Vielfahrer wird sich beim Sichten der Serie eher die Frage stellen: „Alles wie immer – wo ist der Witz?“ Obwohl einiges wirklich charmant ist – für die Mehrheit wird’s immerhin bei den nächsten Verspätungen und verschüttetem Kaffee einen neuen Grund zum Schmunzeln geben. Wenn sogar Sixt liebevoll stichelt und das Netz applaudiert, hat die Deutsche Bahn mit „Boah, Bahn!“ vielleicht ihr sympathischstes Zugpferd aufs Gleis geschickt. Ins Gespräch kommt die Deutsche Bahn damit allemal – und damit dürfte das Format sein Ziel locker erreicht haben. Es spielt so selbstironisch mit den eigenen Unzulänglichkeiten, wie Rudi Carrell es immer propagiert und selbst perfekt umgesetzt hat. Und: Es macht vor allem Werbung für die Menschen, die für die Deutsche Bahn arbeiten und das tägliche Leid Tag für Tag wegmoderieren müssen. Denn bei aller Perspektive auf die täglichen Herausforderungen und Probleme darf man nie aus dem Blick geraten lassen – hier arbeiten Menschen, und die meisten von ihnen geben alles für die Kund:innen, damit diese sich an Bord wohl fühlen, sei es auch noch so herausfordernd.
PS: Achso, hier geht’s zur Bahn-Serie.
Bilder: Deutsche Bahn
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