„Ladies and gentlemen, rock and roll“ – so startete am 1. August 1981 ein neuer Sender in den USA – MTV. Das erste Video war passenderweise „Video Killed the Radio Star“ von den Buggles. Bei uns in Deutschland gab’s MTV erst Jahre später zu sehen, gehörte dann aber natürlich zu meinem festen TV-Programm – nicht selten als ein ständiges Grundrauschen im Hintergrund, derweil ich Hausaufgaben oder sonstwas gemacht habe. „MTV Select“ oder „MTV Most Wanted“ waren im Prinzip Pflicht. Natürlich wurde von mir auch einiges per Videorekorder mitgeschnitten – ja, da erfülle ich eben alle Klischees. Was man verstehen muss: MTV war irgendwie nicht einfach nur ein Fernsehsender, und es war mehr als der normale Musikkonsum via CD, Cassette oder Platte: Musik konnte man jetzt nicht nur hören, sondern auch sehen, erleben, entdecken. MTV war wie ein neues Fenster zur Welt. Und jetzt, wenn nach fast 45 Jahren die Musikvideokanäle von MTV abgestellt, werden, schließt sich dieses Fenster. Das macht natürlich wehmütig, auch wenn ich schon lange nicht mehr wirklich durchgesehen habe.
Rückblick: So startete MTV
Als MTV am 1. August 1981 in den USA startete, war die Idee so simpel wie radikal: 24 Stunden Musikvideos am Stück – eindeutig ein Format, das vorher so nicht existierte. „Ladies and gentlemen, rock and roll“, waren wie gesagt die ersten Worte, gefolgt von dem Song – und Video natürlich – „Video Killed the Radio Star“ – ein Satz, der passender nicht hätte sein können. MTV verwandelte fortan einzelne Clips in einen kontinuierlichen, zusammenhängenden Strom und machte Musik visuell erlebbar. Der Sender wurde als Joint Venture von Warner Communications und American Express gegründet, und er richtete sich radikal an eine junge Zielgruppe, die bis dahin kein eigenes, visuell aufgeladenes Musikfernsehen hatte. Der Sendestart war dabei noch nicht einmal sonderlich erfolgreich, denn lediglich rund 800.000 Haushalte konnten MTV tatsächlich auch empfangen; und es gab nur 13 Werbepartner und 168 Musikvideos, davon alleine 30 von Rod Stewart. Der erste Metal-Song in der Geschichte von MTV kommt nach einer guten Stunde: „Iron Maiden“ von Iron Maiden, wie Björn Springorum auf The Circle berichtet. Viele Musikvideos gab’s damals auch gar nicht, weswegen anfangs auch viele Zusammenschnitte von Konzerten gezeigt wurden. Später profitierte MTV extrem davon, dass man in den USA wegging vom Empfang über Antenne, hin zum Kabelkanal-System. MTV wurde von immer mehr Menschen empfangbar, gesehen und geliebt; auch die Musikindustrie erkannte das Potenzial und drehte zunehmend Musikvideos zu den Singles ihrer Künstler:innen. Oder gleich künstlerisch wertvolle Kurzfilme, wie Michael Jackson legendäres Video zu „Thriller“, „Sledgehammer“ von Peter Gabriel oder „Take on me“ von a-ha, immerhin mit sechs MTV Video Music Awards ausgezeichnet.
Viele große Regisseur:innen begannen ihr Schaffen mit Musikvideos oder ließen es sich nicht nehmen, sich trotz erfolgreicher Karrieren auf das Format einzulassen. Die Liste macht Ji-Hun Kim für monopol auf – und die ist genauso illuster wie lang: David Fincher drehte Videos für Madonna („Vogue“) und Aerosmith („Janie’s Got A Gun“), Spike Lee verfilmte „Fight The Power“ von Public Enemy. David Lynch drehte „Wicked Game“ von Chris Isaak, Martin Scorsese „Bad“ von Michael Jackson. Ji-Hun Kim nennt außerdem Ridley Scott (Roxy Music, Bryan Ferry), Jonathan Glazer (Radiohead, Jamiroquai), Gus Van Sant (Red Hot Chili Peppers), Sofia Coppola (The White Stripes), Sam Mendes (The Killers), Harmony Korine (Sonic Youth, Rihanna), Spike Jonze, Anton Corbijn und Michel Gondry.
Für mich und meine Generation war MTV damit mehr als nur ein Sender – es wurde zu einer Art Kulturraum. MTV definierte Ästhetiken, schuf Stars, verschob musikalische Horizonte. Bevor YouTube, Spotify oder Instagram existierten, war MTV die große Bühne für Musik und Künstler: Hier sahen wir Madonna tanzen, Michael Jackson das schon erwähnte „Thriller“ performen und Nirvana mit „Smells Like Teen Spirit“ den Soundtrack einer neuen Generation formen. MTV machte Musikvideos zu einer Kunstform, einer neuen Sprache, in der Bild und Sound miteinander verschmolzen. „MTV hat die Popmusik wirklich grundlegend verändert“, ordnet die Film- und Medienwissenschaftlerin Kirsty Fairclough von der Manchester Metropolitan University gegenüber afp ein. Der Sender habe sowohl berühmte als auch unbekannte Künstler in die Wohnzimmer von Musikfans auf der ganzen Welt gebracht. Die Abschaltung von Sendern in vielen Ländern „markiert definitiv das Ende einer Ära in der Art und Weise, wie wir Musik erleben, sowohl visuell als auch kulturell“, wird sie zitiert. Ich erinnere mich auch noch an meine zeit als Student für Film- und Fernsehwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum – regelmäßig gab’s dort Seminare zur Popkultur und zum Einfluss von MTV – eine spannende Zeit. Mehr zur Geschichte von MTV gibt’s hier bei popologist.org.
Was genau war dieser „MTV-Effekt“?
Für die Popkultur bedeutete MTV nicht nur eine neue Verbreitungsform, sondern einen tiefgreifenden Wandel in Wahrnehmung und Erwartung. Musik wurde nicht nur gehört, sie wurde gesehen — in schnellen Schnitten, in Mode, in Bildsprache, in Symbolik. MTV war ein Trendsetter: ob Kleidung, Sprache oder Lebensgefühl — MTV sprach direkt in die Jugendzimmer dieser Welt. Und setzte selbst Trends, wie die klassische MTV Unplugged-Reihe zum Beispiel, über die Künstler wie Eric Clapton und George Michael ihre eigene Musik teilweise neu inszenierten und entdeckten, wie indigomusic hier erläutert. Oder die eigenen Preisverleihungen für Musikvideos und -künstler, wie die MTV Video Music Awards oder später die MTV Europe Music Awards.
Möglich wurde letzteres, weil MTV mit MTV Europe am 1. August 1987 auch in Europa startete, mit einem eigenen Sitz in Amsterdam – und nicht weniger passend mit dem Song „Money for Nothing“ von den Dire Straits, mit der prägenden „I want my MTV“-Passage von Sting im Background. In Deutschland startete MTV übrigens erst 1997. „Ich war untröstlich, als es zu einer Aufteilung in verschiedene Regionen kam. Für mich war das wie der Anfang vom Ende“, sagt die Niederländerin Simone Angel, eine der Macherin der legendären MTV Party Zone. Plötzlich hatten Bands wie Wir sind Helden oder Tokio Hotel auch hier eine Plattform, auf der sie sicht- und hörbar wurden – Johann Voigt erinnert sich in der taz.
Und auch für Moderator:innen war es ein Sprungbrett: Wer erinnert sich nicht an Namen wie Ray Cokes, Kristiane Backer, Nora Tschirner und Christian Ulmen… Das galt natürlich auch für VIVA, der nationalen Konkurrenz zu MTV – beides zusammen ein Paradies für Musikbegeisterte (auch nach der Übernahme von VIVA durch MTV 2004), und meinem Empfinden nach auch mit ein Grund dafür, warum deutschsprachige Musik auch in damals jungen Generationen wieder beliebt und gehört wurde.
Vom Musikvideo-Sender zum Reality-TV-Sender
Mit dem Internet veränderte sich alles. Erst MySpace (auch schon Geschichte) und später Facebook, Twitter und YouTube, inzwischen TikTok & Co. Etwas differenzierter war es in Deutschland: Es gab ja noch VIVA, natürlich auch längst Geschichte. Und MTV reagierte auf sinkende Einschaltquoten, neue Sehgewohnheiten und Konkurrenz durch digitale Plattformen mit weiteren neuen Formaten. Was einst „Music Television“ war, wurde Stück für Stück Entertainment-Sender. Reality-Shows, Serien, Fremdformate — MTV entfernte sich vom Kern, den es einst definiert hatte. Und nun, ab dem 31. Dezember 2025, verschwinden die klassischen Musikvideokanäle wie MTV Music, MTV 80s, MTV 90s oder Club MTV laut BBC endgültig aus Europa. Zu Hochzeiten erreichte selbst der europäische Ableger des Senders zwischen 100 und 150 Millionen Zuschauer:innen. Heutzutage liegt der Marktanteil nur noch bei etwa 0,1 Prozent, wie VISIONS feststellt. Anderen Musiksendern ergeht es nicht besser: DELUXE Music, bei mir seit einigen Jahren der Quasi-Ersatz für MTV, switched auch immer mehr auf Reality-Formate.
Dass MTV wie beschrieben irgendwann nicht mehr nur Musik zeigte, fühlte sich zunächst allerdings gar nicht wie ein Bruch an. Formate wie „Beavis and Butthead“ oder „The Real World“, oder später „Jackass“ und „Laguna Beach“ schoben sich in die Programmschemata, und der Sender wurde gefühlt zu einem Vorreiter des Reality-TV. Aus der Perspektive des langjährigen Zuschauers war das für mich zunächst nur eine Erweiterung: Zwischen zwei Videos eben noch schnell ein bisschen fremdes Leben. Das breitete sich allerdings aus – das Ende ist bekannt.
Was sagen diejenigen, die dieses Medium mitgeprägt oder untersucht haben?
Die ehemalige MTV-Moderatorin Daisy Fuentes bringt es in einem Interview mit PEOPLE auf den Punkt: „Ich dachte, es ist ein bisschen traurig, aber es war schon eine Weile traurig. MTV hatte seine Zeit und diese Zeit wird sich nie wiederholen, und es ist Zeit für Veränderungen.“ Sie empfindet zugleich Respekt für das, was war, und Neugier auf das, was kommt.
Auch Medienforscherinnen ordnen das Ende ein: Laut Kirsty Fairclough von der Manchester Metropolitan University habe MTVs ursprüngliches Konzept vor allem in einer Ära funktioniert, in der Fernsehen der zentrale Ort kultureller Vergemeinschaftung war. Digitale Plattformen wie YouTube oder TikTok hätten „die Art und Weise, wie wir mit Musik und Bildern umgehen, völlig verändert“, wie sie in der taz zitiert wird. Das Publikum von heute erwarte Unmittelbarkeit und Interaktivität, was Videos im Fernsehen nicht bieten könnten, erläutert die Expertin für Populärkultur weiter.
Der Sender sei erfolgreich gewesen, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte, sagt James Hyman, der in den 1990er Jahren Tanzshows für MTV Europe produzierte. „Es war so aufregend, weil das im Grunde alles war, was die Leute hatten.“ Und Dr. Sarah Keith von der Macquarie University erklärte einmal gegenüber beat: „MTV war ein neues Format. Es lief rund um die Uhr im Kabelfernsehen und erreichte ein neues Publikum. Es war ein Sender speziell für junge Fernsehzuschauer. MTV war wirklich ein Ort für Musikvideos und ein Zentrum der Jugendkultur. Der Sender leistete auch Pionierarbeit bei vielen originellen Jugendinhalten.“
Abschied und Vermächtnis von MTV
MTV hinterlässt ein zwiespältiges Vermächtnis. Es hat Pop und Jugendkultur definiert, medial verknüpft und in unsere Welt getragen. Es hat Trends gesetzt und Bilder geschaffen, die noch heute nachhallen. Doch wie alle kulturellen Institutionen ist auch MTV einem Wandel unterworfen: dem Wandel der Medien, der Sehgewohnheiten und der Generationen.
Für mich persönlich war MTV mehr als ein Sender — es war ein Erlebnis, ein Gefühl, ein Teil des Aufwachsens. Und auch wenn die Musikvideos bald verschwinden: Die Erinnerungen an diese Zeit werden bleiben. Einige Tapes mit Mitschnitten von damals übrigens auch. Auch wenn es jetzt heißt: „Internet killed the Video Star“.




































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